Diese Grafiken zeigen, wie die Kinos in die Krise rutschten

2022-08-12 20:50:31 By : Mr. Robert Hsieh

Das Kino ist in der Krise – diesen Satz hörte man schon vor Jahrzehnten. Wie schwer es heute um die Branche steht – und was dagegen unternommen werden kann:

Als das Kino in der Schweiz seinem Höhepunkt zusteuerte, konnten sich die Betreiber die Hände reiben. «Die Filmvorführer bewegten sich sowohl in der Stadt als auch auf dem Land in einem konkurrenz-, risiko- und anspruchslosen Gewerbe», heisst es im Historischen Lexikon der Schweiz. Doch das ist lange her. 1963 gab so viele Kinos in der Schweiz wie nie mehr seither.

Dann schlug die Technologie ein erstes Mal zu.

Ab Mitte der 1960er Jahre wurden Fernsehgeräte für viele Haushalte erschwinglich, was sich negativ auf die Besucherzahlen auswirkte und das «Kinosterben» einleitete. Das Bundesamt für Statistik liefert diesen Grund, schreibt aber auch, dass hier keine vertieften und lang angelegten Marktstudien zur Verfügung stehen. Dass der technologische Fortschritt dem Kino zusetzte, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Ab 1980 sanken die Kinoeintritte von 21 Millionen auf einen ersten Tiefpunkt 1990 mit 14,5 Millionen Eintritten. Auch hier war neue Technologie im Spiel. Olivier Moeschler vom Bundesamt für Statistik (BfS) schreibt auf Anfrage: «Dieser Einbruch wird gemeinhin mit dem Aufkommen der Heimvideo-Systeme – vor allem VHS – erklärt.»

Hinzu kam die Privatisierung (und dadurch die Vervielfachung der Angebote) der Fernsehens. Sender wie RTL und Sat 1 gingen 1984 auf Sendung, leiteten ein neues TV-Zeitalter ein und machten «Kinoabende» auf dem Sofa zu einer valablen Alternative.

Um die Nullerjahre erlebte das Kino einen unerwarteten Höhenflug, der 2002 beinahe die Zahlen von Anfang der 80er Jahre erreichte. Dieser bislang letzte Höhepunkt 2002 wird unter anderem mit drei Kassenschlagern erklärt, die bis heute in der ewigen Top-30-Liste auftauchen.

Doch die technologischen Errungenschaften setzten dem Kino weiter zu.

«Die Einbussen nach der Jahrtausendwende werden mit dem Aufkommen neuerer Home-Cinema-Systeme und später mit der Verbreitung von Video on Demand (VoD), beziehungsweise von Streamingdiensten, in Verbindung gebracht», sagt das BfS.

Obwohl die Kinos nie mehr die Zahlen erreichten, die sie Anfang der 80er hatten, waren nicht alle Jahre erfolglos: «Die Eintritte haben sich seit den 1990er Jahren keineswegs linear entwickelt – so waren die ersten Jahre nach 2000 sehr erfolgreich», so das BfS weiter.

Dazu gehört auch 2012. Mit «Skyfall» und «Intouchables» steuerten zwei der erfolgreichsten Filme alleine über 2,5 Millionen Eintritte bei. René Gerber, Generalsekretär von ProCinema, dem Schweizer Verband für Kino und Filmverleih, sagt zu watson: «Starke Filme ergeben meistens auch ein erfolgreiches Kinojahr. Viele Filme danach haben zwar stark performt, konnten aber leider nicht mehr ganz an das Niveau dieser sehr erfolgreichen Filme anknüpfen.»

Der Rückgang der Kinozahlen ist umso bemerkenswerter, wenn man ihn mit der Bevölkerungszahl der Schweiz vergleicht. Seit 1980 wuchs die Bevölkerung in der Schweiz um 35 Prozent, die Kinoeintritte nahmen in der gleichen Zeitspanne um rund 40 Prozent ab.

Die Coronapandemie hat auch der Kinobranche einen massiven Einbruch beschert. Am 12. Dezember 2020 gingen die Lichter aus, die Leinwände blieben in der ganzen Schweiz für insgesamt 128 Tage dunkel. «Als sie am 19. April 2021 wieder öffnen durften, war die beste Kinophase des Jahres bereits vorbei und die behördlichen Auflagen und Einschränkungen waren enorm», hält ProCinema in seinem aktuellen Facts & Figures fest.

In Zahlen bedeutete dies: Die Kinoeintritte sackten 2020 auf 4,5 Millionen zusammen, 2021 zählte man 5,4 Millionen Besucher.

Seit Februar 2022 wurden in der Schweiz praktisch alle Massnahmen gegen das Coronavirus aufgehoben. Die Kinos verzeichneten aber durchzogene erste Monate. Gerber schreibt: «Momentan haben wir einen Drittel weniger Zuschauer und Umsatz als vor der Pandemie.»

Nur ein Film hat es in diesem Jahr bislang geschafft, die Vorjahreszahlen zu übertreffen: «Top Gun: Maverick». Zum Start des Actionfilms verzeichneten die Kinos Ende Mai (Woche 22) einen Spitzenwert.

Im Jahr davor sorgte «Avengers: Endgame» (Woche 17) und «Star Wars: The Rise of Skywalker» (Wochen 51 und 52) für starke Kinozahlen.

Die Branche lechzt nach dem nächsten kommerziellen Grosserfolg. Gemäss ProCinema ruhen die Hoffnungen auf folgenden Filmen:

Gute Filme alleine werden die Branche aber kaum retten. Der Markt ist nach Corona noch schwieriger geworden. Das spürt auch blue Cinema, das in Luzern die Kinos Capitol und Moderne schloss. «Der Mietvertrag wurde aus wirtschaftlichen Gründen nicht verlängert. Der Kinomarkt ist derzeit enorm unter Druck, was wir stark spüren», schreibt Mediensprecherin Olivia Willi auf Anfrage. In einigen Innenstädten sei es mit Ein- oder Zwei-Saal-Kinos schwierig zu überleben.

Darum setzen grössere Kinos nun immer mehr auf Events.

In Chur eröffnet blue Cinema noch in diesem Jahr ein «Multitainment-Haus», das neben Kinos auch andere Entertainment-Angebote unter einem Dach vereint. Willi sagt dazu: «Wir denken, dass es heute schwierig ist, ‹nur› Kino zu machen.»

Trotzdem gehöre dies weiterhin zum Kerngeschäft. «Viele Gäste kommen auch zu uns, um zuerst einen Film zu schauen, danach etwas zu essen und vielleicht sogar noch eine Runde Bowling zu spielen, während sie parallel dazu Live-Sport in unseren Sportbars schauen», sagt Willi weiter.

Mit diesem vollumfänglichen Entertainment-Erlebnis hofft man, die Zuschauer auch in die Kinos zurückzuholen.

Die Kinos können – wie auch einzelne Säle – gemietet werden. «So können Firmen ihren Mitarbeitern eine tolle Event-Location bieten. Denn nur reines Kino zu machen, ist leider oft zu wenig – Entertainment wird immer wichtiger», erklärt Willi.

Dass Kinos auch in Zukunft bestehen bleiben, davon ist Willi überzeugt ist: «Das Kinoerlebnis ist mit nichts zu vergleichen. Kino steht für Emotionen, für Erlebnisse mit Freunden und Familie. Es geht um Faszination, um Power, um Grösse.»

Zudem würden die grossen Leinwände sowie innovative Bild- und Tontechniken ein ganz anderes Filmerlebnis, als dies zu Hause der Fall ist, bieten.

Auch der Filmliebhaber Stephan Talmon-Gros versucht die Kinos wieder attraktiv machen – indem er alte Kinofilme mittels interaktiven Abstimmungen zurück in die Kinos bringt. Dazu hat er die Plattform theoneswelove.ch lanciert.

Sein Konzept funktioniert so: Die User können auf der Webseite Filme vorschlagen. Danach wird abgestimmt. Der beliebteste Film pro Stadt erscheint dann monatlich in den Kinos Riffraff (Zürich), Bourbaki (Luzern) und Kinepolis (Schaffhausen).

Die Idee scheint zu gefallen. «Der Start verlief gut. Die ersten Vorstellungen waren gut besucht und erreichten jeweils die höchsten Besucherzahlen des Tages», sagt Talmon-Gros auf Anfrage.

Er will so etwas wie «Filme on demand» ins Kino bringen und ermöglichen, dass alte Filme wieder einmal als Kinoerlebnis genossen werden können. «Oder auch, dass Junge überhaupt einmal solche Filme im Kino sehen können. Momentan gibt's das auch nur einmal pro Monat. Aber ich glaube, es braucht neben Blockbustern auch etwas, das den Leuten die Chance bietet, Filme zu sehen, welche es sonst nicht mehr ins Kino schaffen würden.»

Ein ähnliches Projekt verfolgt Ronny Kupferschmid seit 2015 mit seiner Kultmoviegang in Bern (ab August auch unregelmässig in Zürich). «Wir zeigen unfreiwillig komische Best-Worst-Perlen sowohl aus tiefstem B-Movie-Sumpf als auch kultige 80er- und 90er-Filme. Wir zelebrieren unglaubliche, grottenschlechte und trotzdem extrem unterhaltsame Filmkunst. Jeweils flankiert mit dem legendären Halli-Galli-Programm (Animation, Guides, Shots, Give-Aways).»

In der Pandemie entstanden zudem die «Kultfridays», welche seit dem 30. April 2021 wöchentlich im Kino Quinnie durchgeführt werden. Gezeigt werden dann ausgewählte Filme wie «El Topo», «Terminator 2» oder «The Exorcist». «Diese gehören jeweils zu den meistbesuchten Screenings des Tages», sagt Kupferschmid am Telefon.

Kupferschmid glaubt nicht, dass es zu wenig gute Kinofilme gibt, er hat aber eine gewisse Bequemlichkeit festgestellt. Es sei nun mal nicht mehr zwingend, dass man ins Kino muss für einen guten Film. Er selbst ist weiterhin begeisterter Kinogänger und führt im nächsten Jahr erstmals das 80er-Kultfilmfestival in Bern durch.

Die Projekte werden die Kinobranche nicht retten. Sie zeigen aber vor allem eines: Kino weckt noch immer Emotionen.