Marteria im Modeshooting: Ich lebe immer in Extremen

2021-12-27 02:10:10 By : Ms. lana xie

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15. September 2021 · Nach einem Nierenversagen hatte Marteria mit dem Feiern abgeschlossen. Das gesunde Leben wurde ihm aber zu öde. Man solle nicht immer so verdammt vernünftig sein, sagt der Rapper – und sucht sich auch für unser Shooting extreme Looks aus.

Ob er überleben würde, das konnte der Arzt dem Rapper Marteria nicht sagen. Bei einem Benefizspiel für den Fußballverein Hansa Rostock hatte der Musiker 2015 erst 90 Minuten durchgespielt, zwei Tore geschossen und danach so viel Bier getrunken, dass seine Nieren versagten. „Es stand bei mir auf der Kippe: Leben oder Tod“, sagte Marteria zwei Jahre später. „Freunde und Familie waren am Boden zerstört.“ Er überlebte, merkte aber, dass er sein Leben verändern musste. „Seit zwei Jahren trinke ich keinen Alkohol und nehme keine Drogen mehr. Und das feiere ich total ab“, sagte er 2017. Seinen Rausch hole er sich jetzt durchs Angeln. „Mir fehlt gar nichts.“

Anfang 2021 veröffentlichte Marteria mehrere kurze Videos: Er und der Feine-Sahne-Fischfilet-Sänger Monchi fallen darin schwerbetrunken in eine Dönerbude ein, trinken oberkörperfrei und grölend Schnaps in einer Kneipe, randalieren auf der Straße und knacken schließlich in einem stockdunklen Hafen das Schloss eines Bootes. Mit diesen Szenen beginnt auch das Video zum ersten Lied von Marterias neuem Album, das in diesem Oktober erscheint. Das Lied heißt „Niemand bringt Marten um“; Marten Laciny ist der bürgerliche Name des Rappers. Auf Youtube wurde das Video schon mehr als drei Millionen Mal angeklickt – ein großer Erfolg für Marteria, dessen Hits „Kids“ (70 Millionen Klicks) und „Lila Wolken“ (47 Millionen) schon ein paar Jahre älter sind. Er kann sie immer noch schreiben, die großen Hymnen aufs Feiern und aufs Leben. Unter diese Einschätzung mischten sich in der Rapszene im März allerdings auch nachdenkliche Töne: „Müssen wir uns Sorgen um Marteria machen?“, hieß die Folge eines Rap-Podcasts. Also: Müssen wir?

An einem Morgen im Juni schlappt der 38 Jahre alte Rapper mit Kapuze über dem Kopf auf ein Hotel in der Nähe des Berliner Tiergartens zu. Etwas verfeiert sieht er aus, zum Interview vor dem Modeshooting fürs F.A.Z.- Magazin bestellt er sich einen Tee. Vorher waren wir uns nicht ganz sicher, wie gut die Laune des Rappers im Hinblick auf die nächsten Stunden sein würde, in denen er in immer neuen Outfits aus dem Hotel in den Tiergarten laufen wird, um sich dort fotografieren zu lassen.

Marteria wurde als Siebzehnjähriger in New York als Model entdeckt, zog nach Amerika, brach die Karriere aber schnell ab. Später sagte er: „Modeln ist stumpf. Ziehst etwas an, bist ’ne Puppe, rennst irgendwo lang. Das erfüllt niemanden.“ An diesem Sommertag in Berlin wird Marteria aber – so viel darf man schon verraten – viel Spaß am Ausprobieren der verschiedenen Outfits haben. Erst einmal wird jedoch geredet.

Während die meisten Menschen in der Corona-Zeit wenig erlebt haben, weil sie vor allem zu Hause waren, kann Marteria von Abenteuern am anderen Ende der Welt erzählen. Sein Jahr 2020 fing damit an, dass er sich auf Instagram mit einem Video von seinen Fans in eine Schaffenspause verabschiedete. „Es geht jetzt die nächsten Monate bei mir nicht um Musik. Ich werde viel reisen, mir die Welt angucken und versuchen, mich neu inspirieren zu lassen.“ Er sei davon überzeugt, dass 2020 „das beste Jahr in unserem Leben wird“, sagte er und lag dabei in einem Pool auf Bali. 

Das nächste Instagram-Video veröffentlichte Marteria mehr als ein Jahr später, es war das Suff-Video aus der Dönerbude mit Monchi. Und was ist zwischen den beiden Videos passiert? „Ich habe zunächst auf Bali viel Sport gemacht, vor allem Thaiboxen.“ Dann sei er zur Ruinenstadt Machu Picchu in Peru geflogen und schließlich zum Angeln auf eine Insel vor Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. Ausgerechnet dort holte ihn die Pandemie ein. Im März 2020 herrschte in Venezuela ein „totaler“ Lockdown. Grenzen wurden abgeriegelt, Flüge ausgesetzt, Geschäfte geschlossen. „Das war ein dramatischer Moment“, sagt Marteria. „Es gab kein Flugzeug mehr zurück.“ Caracas gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt, in fast keiner anderen Metropole wird so häufig gemordet. „Da lagen schon vor Corona die Leichen am Straßenrand.“ Die Versorgungslage ist katastrophal: In Venezuela mangelt es an Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Benzin und Gas, selbst in Krankenhäusern kommt es zu Stromausfällen.

Als der Lockdown begann, charterte der Rapper eine Cessna und flog nach Trinidad und Tobago, in das Land der zwei karibischen Inseln, die direkt vor Venezuela liegen. „Wir konnten landen, aber ich wurde wegen der Corona-Regeln nicht ins Land gelassen. Bewaffnete Grenzer wollten mich zurück ins Flugzeug setzen.“ Er habe die deutsche Botschaft kontaktiert und versucht, den Mitarbeitern klarzumachen, dass er nicht zurück nach Caracas könne. „Das ist kein Kriegsgebiet, aber schon sehr nah dran. Der Botschafter hat mir gesagt, er könne nichts machen – ich solle irgendwie versuchen, nach Barbados zu kommen.“ Das Land liegt auf einer Insel noch mal eine Flugstunde nördlich von Trinidad und Tobago. Marterias Pilot weigerte sich aber, dort unangemeldet hinzufliegen – und flog zurück nach Caracas. „Ich habe mich schon in Mad-Max-Montur bei Unruhen Schaufenster einschmeißen sehen, um an Brot zu kommen, das inflationsmäßig 80.000 Dollar kostet“, sagt Marteria. „In Caracas hatte jeder, den ich kenne, schon mal eine Knarre am Kopf. Ich dachte, ich sterbe vielleicht nicht sofort, aber bald. Und dann waren die Leute, bei denen ich in der Nacht in Caracas untergekommen bin, unglaublich nett. So wie es immer ist in den Ländern, die am ärmsten sind.“

Am nächsten Morgen startete Marteria in der Cessna in Richtung Barbados, in das Heimatland der Sängerin Rihanna. „Ich habe mit der Frau, die die Stempel zur Einreise verteilt hat, über Rihanna geplaudert – nebenbei hat sie mir den Stempel in den Pass gedrückt. Ich war unglaublich erleichtert, habe zwei Tage gefeiert und aufs Leben angestoßen.“ Als er wieder nüchtern war, waren die Rückhol-Flugzeuge der Regierung weg. „Ich habe mir erst mal nichts daraus gemacht, es gab kaum Corona-Fälle.“ Schnell wurden es aber immer mehr. Als die Supermärkte zum letzten Mal vor dem Lockdown um neun Uhr öffnen sollten, habe er sich um sieben Uhr vor einen Laden gestellt. „Die anderen waren aber schon um vier Uhr da.“ In der Nacht darauf um 1.30 Uhr habe er die letzten Nudeln bekommen. „Und dann saß ich in diesem wunderschönen Paradies, habe auf das türkise Meer geschaut und konnte nichts machen. Also habe ich angefangen, Musik zu schreiben.“ Viereinhalb Monate verbrachte er auf Barbados, am Ende hatte er 20 Lieder geschrieben. Das erste: „Niemand bringt Marten um“.

Was nach so vielen Jahren und Platten noch sein Ziel beim Musikmachen ist? „Mir geht es schon lange nicht mehr darum, wer den krassesten Reim hat. Mein einziges Ziel ist es, ein Lied zu schaffen, das bleibt“, sagt Marteria. Manchmal gelinge ihm das, manchmal nicht. „Ich habe zwischendurch auch mal schlechtere Musik gemacht – einfach weil es normal ist. Das passiert jedem Künstler, da muss man durch. Hauptsache, man macht nicht immer denselben Scheiß – das ist der Tod persönlicher Entwicklung. Ich versuche, immer etwas Neues zu machen. Das kann auch sein, sich wieder auf die Ursprünge zu besinnen.“ Die Ursprünge von Marteria liegen in Rostock, dort wurde er 1982 als Sohn eines Seemanns und einer Lehrerin geboren. Über seinen älteren Bruder lernte er früh die Hip-Hop-Kultur kennen. Mitte der Neunziger fing er selbst an zu rappen und veröffentlichte mit Freunden erste Freestyle-Tapes. Erfolgreich war er zunächst aber als Fußballspieler: Marteria war Kapitän der Jugendmannschaft von Hansa Rostock, spielte in der U-17- Nationalmannschaft – und gab diese Karriere dann auf, um es als Model in New York zu versuchen.

Mit der Modebranche konnte er wenig anfangen, dafür vertiefte er seine Rap-Leidenschaft in der Hip-Hop- Hauptstadt: Während er in U-Bahnen an Graffiti vorbei zu Modeshootings von Hugo Boss und Valentino fuhr, schrieb er Reime in sein Skizzenbuch. Zurück in Deutschland ging Marteria auf eine Schauspielschule, erst 2006 veröffentlichte er sein erstes Album. Der große Erfolg blieb aus, zwei Jahre lang lebte er von Arbeitslosengeld.

Erfolgreich war in Deutschland damals Gangsta-Rap: Aggro Berlin, Bushido und Kollegah beherrschten die Szene, bis die Hörer irgendwann vorerst genug hatten von den immer gleichen Drogendealer- und Zuhältergeschichten. Ende der nuller Jahre wirkte es, als wäre die große Zeit des Deutschraps vorbei. In Wirklichkeit ging der Hype erst richtig los. 2010 veröffentlichte Marteria das Album „Zum Glück in die Zukunft“, es war sein Durchbruch und gleichzeitig der Beginn einer neuen Ära im Deutschrap, die von Rappern wie Cro, Casper und ihm geprägt wurde.

In ihren Texten ging es nicht um Rauschgifthandel und Gewalt, sie schrieben persönliche, tiefsinnige Partyhymnen, die in Clubs und im Radio liefen und Deutschrap aus der Nische in die Mitte der Gesellschaft brachten. Bis heute ist Rap die erfolgreichste Musikrichtung in Deutschland. Tiefsinnige Texte sind allerdings wieder die Ausnahme geworden. Die aktuellen Stars reihen vor allem Namen von Klamotten- und Automarken aneinander.

Was Marteria davon hält, wie sich die Szene entwickelt hat? „Ich bin da ein bisschen rausgewachsen“, sagt er. „Aber ich höre immer noch alles und finde auch Leute cool.“ Auffällig sei, dass viele junge Rapper sich vor allem auf den Vibe der Musik konzentrierten, es gehe ihnen nur um die Stimmung – und nicht um den Inhalt. „Mir war immer beides wichtig. Aber eine Jugendkultur ist eine Jugendkultur, die Jugend entscheidet. Deswegen hat das seine Berechtigung.“ Die aktuelle Zeit sei politisch vielleicht zu aufgeladen. „Die Kids wollen Seelenbalsam und nichts, was sie noch zum Nachdenken bringt. Auch das kann ich ein bisschen verstehen.“ Es werde aber eine Zeit kommen, in der Inhalte mehr zählten. „Die Kinder der aktuellen Generation machen dann vielleicht wieder politischere Musik und fragen ihre Eltern: Seid ihr eigentlich alle bescheuert gewesen?“

Den Anschluss an die Jugend verliert Marteria allein schon wegen seines 13 Jahre alten Sohns nicht, von dessen Mutter er getrennt lebt. „Während der Trennung gab es nicht nur schöne Zeiten. Aber jetzt haben wir das gut geregelt, und ich freue mich, mit meinem Sohn die Welt noch mal neu entdecken zu können, mit ihm Fußball zu spielen, über Musik und das Leben zu sprechen.“

Versteht er als Vielflieger es denn auch, dass die jüngere Generation nicht mehr das Ziel hat, um die Welt zu reisen – sondern Fernreisen in Zeiten der Klimakrise ein Tabu geworden sind? „Es stimmt, dass Reisen klimaneutral werden muss“, sagt Marteria. „Aber ich fände es eine ganz schlimme Veränderung, wenn die Menschen nicht mehr reisen würden. Reisen führt dazu, dass die Welt zusammenrückt und Vorurteile gebrochen werden. Klar, die Erde ist unfassbar wichtig. Aber es ist auch wichtig, dass die Menschen darauf miteinander klarkommen. Mit Leuten, die lange im Ausland waren, kannst du viel offenere Gespräche führen, das merkst du sofort.“

Genauso unterschätzt wird seiner Meinung nach ein anderes Thema, das gerne als hedonistisch abgetan wird: „Feiern ist für junge Menschen unfassbar wichtig. Es gibt so viele, die während Corona eigentlich ins Leben starten, etwas erleben und diese Erlebnisse mit Freunden teilen wollten. Für die ist meine neue Platte.“ Passenderweise wurde das Album „5. Dimension“ mitproduziert von einer Elektromusik-Legende: DJ Koze. In einem Lied rappt Marteria: „Den Absprung nicht schaffen, da gibt’s keinen Besseren als mich.“

Aber hatte er mit dem Feiern nicht abgeschlossen? „Ich habe vier Jahre lang einen sehr gesunden, aber ziemlich öden Alltag gelebt“, sagt Marteria. „Wenn du das größte Konzert deines Lebens vor 32.000 Fans in einem Stadion spielst und danach ein alkoholfreies Krombacher trinkst und im Bus eine Folge ,Vikings‘ schaust, ist das scheiße. Man muss auch ein bisschen feiern. Natürlich geht das auch ohne Alkohol – aber das ist dann halt öde.“ Wann er zum ersten Mal wieder getrunken hat? „Ich habe in Rostock in einem Club auf der Tanzfläche zwei Jungs getroffen, die ich in einer alten Goldgräberstadt am Ende der Welt in Kanada kennengelernt hatte. Das fand ich so großartig, dass ich mich mit ihnen abgeschossen habe. So kam ich zurück in die Welt des Wahnsinns.“

Also: Muss man sich jetzt Sorgen um ihn machen? „Meistens haben Leute, die sich über andere Menschen so viele Gedanken machen, selbst Probleme“, sagt Marteria. „Klar, gerade während der Corona-Zeit hat man sich um manche Freunde Sorgen gemacht, die es im Lockdown mit dem Alkohol übertrieben haben. Ich war auch einer von denen. Aber ich lebe immer in Extremen. In anderen Phasen mache ich extrem viel Sport, gehe auf extreme Angelreisen, das gleicht sich alles aus.“

Sein neues Album sei keine Ode an den Alkohol. „Es ist eine Ode daran, dass man nicht immer so verdammt vernünftig sein muss. Ich mag es, mich treiben zu lassen und auch mal in die Scheiße zu geraten. Es gibt Situationen, die kann mir nur die Nacht geben – und die liebe ich. Man darf nach einem negativen Erlebnis nicht die positiven Seiten vergessen. Mein Körper sagt mir schon, wann es genug ist.“ Natürlich habe er sich durch die Rückkehr in die „Welt des Wahnsinns“ viele Probleme zurückgeholt. „Aber Probleme schreiben auch die schönen Lieder – so war das schon immer.“

Quelle: F.A.Z. Magazin

Neues Album von Marteria: Zurück in der Welt des Wahnsinns

Zurück in der Welt des Wahnsinns

Nach einem Nierenversagen hatte Marteria mit dem Feiern abgeschlossen. Das gesunde Leben wurde ihm aber zu öde. Man solle nicht immer so verdammt vernünftig sein, sagt der Rapper – und sucht sich auch für unser Shooting extreme Looks aus.

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