Scheunenviertel: Spaziergang durch die letzte Altstadt von Berlin - DER SPIEGEL

2021-12-27 01:59:21 By : Ms. Mei-Jeng Cheng

Blick aus dem Suhrkamp-Gebäude aufs Scheunenviertel mit dem Fernsehturm am Alexanderplatz im Hintergrund.

Für Sozialromantiker gibt es hier nichts mehr zu entdecken. Das alte Berliner Scheunenviertel hat seinen zweifelhaften Charme längst verloren: Anrüchig war es, mystisch durchweht, fremdes Terrain für die Bewohner des Westens, weil hier das Östliche Einzug gehalten und sich festgesetzt hatte.

In den Gassen und an den Ecken standen einst bärtige Juden mit Schläfenlocken in schwarzen Kaftanen; zwielichtige Schieber zogen sich ihre Mützen ins Gesicht, käufliche Frauen boten sich schon am Tage an.

Dann, auf einmal, raste die Grüne Minna um die Ecke, Schutzmänner durchkämmten ein Anwesen und zogen verschreckte Männer aus Verstecken ans Tageslicht. Oder es kam zu einem Auflauf aufgeregter Ostjuden, die einen Rabbi, einen wahren Wunderheiler, vom Bahnhof Alexanderplatz abholten und ihn im Pulk zur nahen Grenadier-, zur Mulack- oder zur Münzstraße geleiteten.

Hier kam er an, der Franz Biberkopf, den Alfred Döblin auf eine Tortur und die Suche nach ein bisschen Anständigkeit schickte; hier fand der spätere große Schauspieler Alexander Granach erste Berliner Unterkunft, kriegte eine "Klappstulle" und hatte Sehnsucht nach seiner galizischen Heimat, die doch eigentlich rund um die Hirtengasse als ein fast richtiges "Schtetl" wieder auflebte. Hier klagte Joseph Roth über die traurigste Straße der Welt, die nicht einmal "die hoffnungslose Freudigkeit eines vegetativen Schmutzes" hat. Kaum einer aber beschrieb diese Straßen "der kleinen Ewigkeit" so zärtlich-trotzig wie Martin Beradt in seinem Roman von den einfachen Leuten, die sich ihre Zeit auf Erden zwischen den zugigen Toreinfahrten einrichteten.

Nein, das Scheunenviertel hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ganz besonders in den krisenreichen Zwanzigerjahren wahrlich keinen guten Leumund. Am Rand der glitzernden Großstadt gelegen, sammelten sich hier die Underdogs der Gesellschaft im "Binnenland der Ausgebürgerten". Und weil das Leben (und Sterben) vergleichsweise billig war in den zerschundenen und verwohnten Häusern, wurde das Areal auch zum bevorzugten Ankunftspunkt für Tausende von Juden, die aus den östlichen Gebieten Europas vor Gewalt und Pogromen flohen.

Sie blieben meist hängen; die Überfahrt nach Amerika war zu teuer. Und so vermischten sich im Scheunenviertel, wie man es in den schwarz-weißen Fotografien sah, die Eike Geisel in seinem legendären Bildband erst Anfang der Achtzigerjahre dokumentierte, Armut und Hoffnung, Gewalt und Religion, Suff und Sehnsucht. Existenzen auf Zeit, die nichts mehr zu erwarten hatten oder nur noch träumten; Luftmenschen und Schnorrer, deren Romantik im Elend verschmutzte. Dass der Weg fast all dieser Menschen später direkt in die Gaskammern führte, gehört auch zum Ende des Scheunenviertels, wie es einmal war. Das Quartier verflüchtigte sich wie die Erinnerungen.

Und doch kommt da auf einmal zumindest der Versuch einer architektonischen Ehrenrettung: "Das Scheunenviertel ist der älteste noch intakte Stadtteil Berlins", sagt der Architekturkritiker Rainer Haubrich, "und deshalb einer der attraktivsten der Metropole." Wir treffen uns vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, genau da, wo sich früher das Gebiet befand, das dem Viertel seinen Namen gab: Scheunen und Schuppen wurden wegen zu hoher Brandgefahr vor die Tore der Stadt verbannt - und langsam entwickelte sich auch urbanes Leben.

Im Abseits war man hier in der Spandauer Vorstadt immer, was nicht heißen sollte, dass dieser Ort nicht auch gleichzeitig attraktiver werden sollte für Menschen, die sich im teuren Trubel Berlins kaum halten konnten. Eine rege Bautätigkeit setzte ein zwischen Alexanderplatz und Rosenthaler Straße, zwischen Stadtbahn-Viadukt und Torstraße, und über die Jahrzehnte hinweg entwickelte sich ein Quartier, das gerade aufgrund der vielen unterschiedlichen Baustile heute zu einem der interessantesten der Hauptstadt gehört.

Spuren kann man lesen, die von allen Epochen seit dem 18. Jahrhundert erzählen. Im Stechschritt eilen wir mit Rainer Haubrich, der gerade eine Architekturgeschichte über diese letzte Altstadt Berlins geschrieben hat, von Gründerzeit zu Sachlichkeit, von Plattenbau zu Teutonismus, von spätklassizistischen Prunkstücken zu zeitgenössischen Bauten, die wie ein monströser Hieb in die Eingeweide einer erstaunlich intakten Struktur wirken. Denn die Architektur hat sich über die Zeiten hinweg im Scheunenviertel seltsam zurückgenommen. Selbst Nachkriegsbauten halten sich nicht nur die Traufhöhe betreffend an das einheitliche Erscheinungsbild der Umgebung: Die "Platte" etwa nimmt sich erfreulich wohnlich aus mit ihren angedeuteten Erkern zwischen geretteten und wieder restaurierten Gebäuden aus den Jahren um 1900 herum.

Da gibt es Oasen der Ruhe wie den Garnisonsfriedhof mit seinen eisernen Kreuzen und Schatten spendenden Bäumen und dem tosenden Verkehr in der Neuen Schönhauser Straße, wo prachtvolle Bauten stehen, hinter deren Neorenaissance-Fassade einst die reichen, assimilierten Juden lebten, die mit den ostjüdischen Einwanderern in der nahen Grenadierstraße (heute Almstadtstrasse) nichts zu tun haben wollten. Da findet man den Heimatstil der Nazis an der Rückseite der Volksbühne und gleich daneben die Heimstatt der einstigen KPD, in der längst Die Linke ihre Büros hat.

Hans Poelzigs berühmte Häuserblöcke (in einem davon das Babylon-Kino), die ganz ohne ornamentalen Schnickschnack auskommen, gibt es immer noch, aber man muss sich ein wenig anstrengen, um in der nüchtern-weißen und modernen Sachlichkeit des neuen Suhrkamp-Hauses seinen Stil wiederzuerkennen. Echte Bausünden finden sich gleich gegenüber: der schwarz-verschachtelte Block an der Linienstraße ist einer der wenigen brutalen Eingriffe in die Ensemble-Architektur des Scheunenviertels, die sich eben nicht durch Protz auszeichnet, sondern bis heute seinen "menschlichen" Charakter bewahrt hat.

Das ging nicht ohne Protest und Initiative: was der Krieg und die Abriss- und Baukultur der DDR nicht zerstört hatte, rückte langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung. Wenn in der Mulackstraße 37 ein schon aufgegebenes, unbewohnbares, ruinöses Haus doch noch gerettet werden konnte und heute zwischen schlichten Neubauten glänzt, dann ist das auch das Verdienst der Bürger, die das Scheunenviertel nicht aufgeben wollten.

Für Rainer Haubrich, mit dem wir jetzt durch die Max-Beer-Straße laufen, in der noch zahlreiche der ehemals das Bild bestimmenden Kellerläden mit ihren niedrigen Eingängen zu sehen sind, ist das kein "verrufenes Quartier" mehr, sondern eine reizvolle innerstädtische Perle - ein bisschen glänzend, ein bisschen angeschmutzt. Vor allem aber mit reicher architektonischer Substanz "und einer besonderen Atmosphäre, die aus dem Nebeneinander von großstädtischem Treiben und der Intimität von Seitenstraßen und Hinterhöfen entsteht."

Anmerkung: In einer früheren Fassung dieses Artikels haben wir den Namen des Schauspielers Alexander Granach nicht korrekt genannt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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Blick aus dem Suhrkamp-Gebäude aufs Scheunenviertel mit dem Fernsehturm am Alexanderplatz im Hintergrund.

Blick auf die Hackeschen Höfe an der Rosenthaler Straße. Der 1906 eröffnete Gebäudekomplex wurde in den Neunzigerjahren aufwendig renoviert.

Das Scheunenviertel in einem Stadtplan Berlins von Julius Straube, 1910

Plan der Bebauung des damaligen Bülowplatzes, 1925.

Und so sah der Bülowplatz dann tatsächlich aus - die Dreiecksform hat er auch heute als Rosa-Luxemburg-Platz behalten.

Das Viertel vereint Baustile aus allen Epochen seit dem 18. Jahrhundert - kein Wunder, dass auch Neubauten wie das 2018 fertiggestellte Haus Alte Schönhauser Str. 5 alte Stile zitiert.

Kaufhaus Wertheim, 1903 erbaut von Alfred Messel. Die Nebenfassade in der Sophienstraße 12/15 ist noch heute weitgehend erhalten.

Blick auf das Viertel aus dem Suhrkamp-Verlagsgebäude

Der Erhalt alter Gebäude ging auch im Scheunenviertel nicht ohne Kämpfe vonstatten - hier ein besetztes Haus in der Mulackstraße im März 1991.

Die heutige Almstadtstraße hieß einst Grenadierstraße und war als Ankunftsort osteuropäischer Juden bekannt. (Das Foto entstand um 1910)

Der Architekturkritiker Rainer Haubrich hat sein Wissen in diesem Buch gesammelt: "Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin", Insel Verlag, 156 Seiten, 14 Euro

Blick auf die Hackeschen Höfe an der Rosenthaler Straße. Der 1906 eröffnete Gebäudekomplex wurde in den Neunzigerjahren aufwendig renoviert.

Das Scheunenviertel in einem Stadtplan Berlins von Julius Straube, 1910

Plan der Bebauung des damaligen Bülowplatzes, 1925.

Und so sah der Bülowplatz dann tatsächlich aus - die Dreiecksform hat er auch heute als Rosa-Luxemburg-Platz behalten.

Das Viertel vereint Baustile aus allen Epochen seit dem 18. Jahrhundert - kein Wunder, dass auch Neubauten wie das 2018 fertiggestellte Haus Alte Schönhauser Str. 5 alte Stile zitiert.

Kaufhaus Wertheim, 1903 erbaut von Alfred Messel. Die Nebenfassade in der Sophienstraße 12/15 ist noch heute weitgehend erhalten.

Blick auf das Viertel aus dem Suhrkamp-Verlagsgebäude

Der Erhalt alter Gebäude ging auch im Scheunenviertel nicht ohne Kämpfe vonstatten - hier ein besetztes Haus in der Mulackstraße im März 1991.

Die heutige Almstadtstraße hieß einst Grenadierstraße und war als Ankunftsort osteuropäischer Juden bekannt. (Das Foto entstand um 1910)

Der Architekturkritiker Rainer Haubrich hat sein Wissen in diesem Buch gesammelt: "Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin", Insel Verlag, 156 Seiten, 14 Euro

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