Von Stevie Wonder bis Patti Smith: Ein Lexikon der Regenszenen — der Freitag

2022-10-14 21:55:30 By : Ms. Coco Liu

Apollinaire Mit„Es regnet“ – „Il pleut“ – beginnt ein Gedicht von Guillaume Apollinaire. Man erkennt es sofort, bereits vor dem Lesen, es ist ein Bildgedicht, ein Kalligramm. In fünf Strophen tröpfeln von oben nach unten in langen, schmalen Fäden Buchstabenketten über eine Seite. Zuerst ist es ein wenig mühsam, die Leserin muss in die falsche Richtung lesen, das ist aber Absicht. Man kommt sich vor wie in der Grundschule, wo die Zeichen einzeln, eines nach dem anderen, zu verstehbaren Wörtern, Sätzen und dann zu einem Gedicht zusammengesammelt werden müssen. Das Apollinaire’sche Il pleut, 1918 wurde es zuerst veröffentlicht, könnte eine frühe strukturalistische Vorstudie sein: Geschriebene Texte sind auch Bilder, so wie gesprochene Worte zuerst Töne und Laute sind. Es ist aber ein kubistisches Klagelied (➝ Nantes) aus der Zeit des Großen Krieges. An der Front weint der Dichter mit dem Regen gegen das Vergessen einer Zeit im Frieden und in menschlichen Städten an. Eva Erdmann

Baarish Kaum ein Bollywood-Film kommt ohne Musik aus. Es wird herzhaft getanzt und schmachtend gesungen. Die indische Filmindustrie hat dabei eine große Vorliebe für den Monsunregen. Er ist eins der beliebtesten Requisiten des Geschichtenerzählens und steht für Leidenschaft, Intensität und Poesie. Vor allem romantische oder dramatische Situationen spielen in Szenen, in denen es wie aus Eimern schüttet. Anders als in Mitteleuropa wird in Indien die Regenzeit sehnsüchtig herbeigewünscht. Ist sie endlich da, stellt sich ein Gefühl der Glückseligkeit ein: Die so nötigen Niederschläge verwandeln die Natur in üppige, grüne, lebendige Landschaften. Baarish heißt auf Hindi „Regen“, und es gibt Dutzende Lieder mit diesem Titel, in denen sich klitschnasse Paare ihre Liebe gestehen oder sich schweren Herzens voneinander verabschieden (➝ Mood). Elke Allenstein

Frösche Fische, Quallen, Frösche und junge Hunde: Tierregen nennt man das seltene Phänomen, wenn Lebewesen scheinbar aus dem Himmel herabregnen. Oft handelt es sich um flugunfähige Tiere, sodass die unwahrscheinliche Annahme, alle hätten zeitgleich das Fliegen eingestellt, auszuschließen ist. Tierregen kommt in Mythen vor, wird aber auch in vielen alten Aufzeichnungen erwähnt. Der Abt des Klosters Heilsbronn etwa bestätigte 1529, dass Grundeln vom Himmel gefallen seien.Ein Holzschnitt aus dieser Zeit zeigt in Sachsen herabregnende Fische. Auch in modernen Zeiten wurden solche Fälle dokumentiert. So regnete es 2004 in Wales Fische, 2009 in Japan Kaulquappen und ein Jahr später in Ungarn Frösche. Genau erforscht sind die Ursachen für den animalischen Himmelssturz noch nicht. Man geht davon aus, dass Windhosen die Tiere, meist sind es Wasserlebewesen, erfassen, in die Höhe transportieren und auf lokal begrenztem Raum wieder entlassen. Das erklärt allerdings nicht, warum immer nur eine Tierart betroffen ist. Unbekannt ist auch, ob daher die Redensart „Es regnet junge Hunde“ stammt.Tobias Prüwer

Leichtigkeit, die unerträgliche Prag 1968. Teresa – herzergreifend gespielt von Juliette Binoche – verliebt sich Hals über Kopf in den Chirurgen Tomáš (Daniel Day-Lewis), sie heiraten. Doch Tomáš hört nicht auf mit den Affären, er kommt auch nicht los von der freiheitsliebenden Sabina (faszinierend gespielt von Lena Olin). Vor dem Hintergrund des Prager Frühlings zeigt Regisseur Philip Kaufman in seiner Verfilmung von Milan Kunderas gleichnamigem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins die beiden Frauen stark, mit Würde, verwundbar. Der Regen im Film hat erotische Komponenten (im Zug! Beim Fotoshooting!), und es regnet, als das Paar ein einziges Mal wirklich glücklich ist. Katharina Schmitz

Mood In Wong Kar-Wais In the Mood for Love fällt der Regen in Sturzbächen und flutet die schwach beleuchteten Gassen im Hongkong der 1960er. Immer wieder sind sie im Regen aneinander vorbeigehastet, die Gefühle nur in ihren flüchtigen Blicken erkennbar.Jetzt stehen die Liebenden nebeneinander und warten darauf, dass der Regen aufhört – zusammen gesehen werden dürfen sie nicht. Der Regen ist eine Ausrede, um zusammen zu sein, sich die versteckten Gefühle zu gestehen und sich gleichzeitig auf den Abschied vorzubereiten (➝ Baarish). Alles nur eine Probe, beruhigt er sie, als sie schluchzend in seinen Armen liegt, und weiß, dass das nicht stimmt. Alina Saha

Nantes Eines der allertraurigsten im großen Repertoire trauriger Regenlieder beginnt mit einem Klavier, aus dem Arpeggien tröpfeln. Man hört den Regen in gebrochenen Akkorden, noch ehe die französische Chansonnière Barbara von ihm zu singen beginnt: vom Regen, der vom Himmel fiel bei der Ankunft am Bahnhof der Stadt, aus der die Nachricht des sterbenden Geliebten kam, der sich verabschieden möchte von der Frau, die er einst verlassen hat.Sie hat sich auf den Weg gemacht. Als sie ankommt, ist es zu spät. Vier Männer in Sonntagsanzügen bestätigen, was der Himmel über Nantes schon angekündigt hat: Der Geliebte ist gestorben, ohne sich zuvor noch einmal am Lächeln der Verlassenen wärmen zu können. „Es regnet in Nantes“, singt Barbara, und spätestens wenn gegen Ende des Chansons nach dieser Zeile ein Cello einsetzt, gehen auch bei mir die Schleusen auf, hoffe ich, nie nach Nantes reisen zu müssen. Beate Tröger

Patti Als im Dezember 2016 Patti Smith anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan ihm zu Ehren mit einer ergreifenden Version seines Songs A Hard Rain’s a-Gonna Fall auftrat, war das eine Überraschung. Unterstützt wurde sie von einem dezent in Szene gesetzten Orchester, was die Wucht des Songs gekonnt aufbaute und sich entfalten ließ. Noch überraschender war, dass sie bei „I saw a newborn baby“ ins Stocken geriet, sich zweimal entschuldigte und mit der Strophe noch einmal ansetzte. Plötzlich war bei dieser hochoffiziösen Veranstaltung voller hochgestellter Persönlichkeiten die Menschlichkeit greifbar, für die Bob Dylan den Preis schließlich auch bekommen hat. Und für die gerade Patti Smith mit einer ganzen Reihe Gleichgesinnter steht: das Eingeständnis der eigenen Nervosität, weil sie Bob Dylan so sehr verehre, und das beherzte Wiederansetzen, um das Lied dann nur noch kraftvoller zu seinem prophetisch düsteren Ende zu bringen. Marc Ottiker

Schuhmacher Im letzten unendlichen Sommer, nachdem ich dann bang mit Kuhfelltornister zur Schule gehen würde, begleitete ich meinen Großvater zum Schuhmacher, um seine neu besohlten Schuhe abzuholen. Ich würde auf dem Weg einen u-förmig gebogenen Nussgipfel bekommen. Nach einem kurzen Austausch von Neuigkeiten legte der Schuhmacher die neu besohlten Schuhe, an denen die grüne Abholnummer mit einer Metallklammer angeheftet war, auf den Tresen. Unmittelbar nach dem Verlassen der Werkstatt setzte ein heftiger Platzregen ein. Der Geruch von Leder und Gummisohlen vermischte sich mit dem Geruch des nass werdenden, heißen Asphalts. Wir standen unter einem Vordach, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit angesichts der kurzen und heftigen Naturgewalt ist noch heute präsent. Marc Ottiker

Stevie Wonder Es war im Juni 2009, ich war auf einer Journalistenreise in Québec. Abends lag ich auf meinem Polsterbett mit den goldenen Säulen, der Reiseführer behauptete, hier hätte „auch schon die Queen übernachtet“. Ich schaltete CNN ein. Es liefen Michael-Jackson-Videos, rauf und runter. Was war los? Breaking News: „Michael Jackson is dead.“ Jacko! Er war der Held meiner Kindheit. Die Wände meines Zimmers waren mit zu teuer erstandenen Bravo-Postern tapeziert. Nun saß ich mit dieser Nachricht allein in der kanadischen Pampa. Ein paar Tage später war Jazzfestival in Montreal. Ein sonniger Tag, Kinder tanzten auf den Straßen Moonwalk, Laienbassisten übten Billie Jean. Abends kam Stevie Wonder, ganz in Schwarz. „Michael, du bist jetzt bei Gott“, rief er – und sang The Way You Make Me Feel, a cappella. Es fing an zu regnen, der Regen wurde immer heftiger, niemand ging weg. Stevie sang und weinte (➝ Tears in Rain), so wie ich. Maxi Leinkauf

Tears in Rain Die Atmosphäre von Blade Runner erzeugt vor allem der auf futuristische Sets fallende Regen. Im Finale hält Rutger Hauer als sterbender Replikant Batty den Shakespear’schen „Tears in Rain“-Monolog. Der aus den Weiten des Alls heimgekehrte Krieger erzählt auf einem Dach über L. A. im prasselnden Regen von den Wundern im Weltall, die kein Mensch je sehen wird. Mit letzter Kraft berichtet er von „gigantischen Schiffen, die brannten draußen vor der Schulter des Orion“ und „C-Beams, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor“. Unterlegt von Vangelis sagt der Replikant mit erstickter Stimme: „All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen.“Florian Schmid

Wecken Schreckliche Dürre liegt über dem Land – und das nur, weil eine Frau eingeschlafen ist? Nun, so einfach ist es nicht im Kunstmärchen Die Regentrude von Theodor Storm (1863). Denn da gibt es nicht nur den „Feuermann“, der über die verbrannten Felder tanzt, sondern auch den „Wiesenbauern“, der von seinem tiefer gelegenen Stück Land profitiert. Während alle unter der Teuerung leiden, macht er Geschäfte. Keinesfalls soll seine Tochter den Sohn der armen Nachbarin heiraten, die ihm ihr Feld sogar verpfänden musste. Aber Maren liebt Andrees, und dessen Mutter fällt ein Spruch ihrer Urahne ein, der die Regentrude wecken soll. An derlei „Gefasel“ glaubt der reiche Bauer nicht. Die Wette gilt: Wenn binnen 24 Stunden Regen fällt, wird Andrees seine Maren bekommen. Spannend wird es, und es geht gut aus. Der Glaube an die vorchristlichen Naturgöttinnen siegt. Wie die Regentrude erwacht und Wasser fließen lässt, wurde für Schauspielerin Cox Habbema im DEFA-Film von 1976 zur Paraderolle. Irmtraud Gutschke

Zucker Travis, das waren die Guten im Britpop, die Bescheidenen, die Band ohne Skandale, doch mit der Extraportion Liebe und Gefühl. Der Weg von der Kunsthochschule in Glasgow in die Charts klappte mit der zweiten Platte. Why Does It Always Rain On Me? aus dem Album The Man Who wurde 1999 ein Hit. „Musik kann auch ein Stuhl sein, auf dem man sitzen kann“, hat Sänger Francis Healy einmal gesagt. Und dieses Regenlied ist wirklich zum Anlehnen. Wie Zucker, der im Regen schmilzt, klingt der Song, gesungen von einem Mann, der aus jedem Popliedchen großes Gefühlskino machen kann. Das in Cornwall gedrehte Video mit dem alten Vauxhall ist toll, man sollte es unbedingt mal wieder sehen! Ach ja, und dann gab es noch diese Geschichte: Als Travis den Song 1999 beim Glastonbury Festival spielte, begann es zu regnen (➝ Stevie Wonder). Marc Peschke

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